Politik

Ab an die Wahlurne – Wahlbeteiligung soll Kriterium für Krankenkassenfinanzierung werden

Eine Bundesbehörde will beim Risikostrukturausgleich neue Wege gehen. Wo weniger Wahlen stattfinden, soll auch weniger Geld für die Gesundheitsversorgung ausgegeben werden. Nicht um Demokratiefeinde zu bestrafen, sondern aus Gründen der Gerechtigkeit und streng evidenzbasiert. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die arm und ungebildet sind, weniger Gesundheit und Lebenszeit brauchen. Das ist Zynismus im Maxipack. Ralf Wurzbacher.

Dieser Artikel ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Haben Sie sich beim Stehen in der Wahlkabine schon einmal gedacht: Hoffentlich merkt das meine Krankenkasse auch? Sicherlich nicht, denn was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ob Sie wählen oder nicht, geht eine Versicherung doch nichts an. Da können Sie sich so sehr täuschen. Das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) bereitet derzeit den Start einer sogenannten Reform vor, die eine echte Verknüpfung von Wählen und Arztbesuch herstellen soll – und zwar in finanziell erheblicher Größenordnung. Der Landesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) in Sachsen-Anhalt rechnet bei einer Umsetzung der Pläne mit Einbußen von nicht weniger als 24 Millionen Euro. Allen Landeskassen zusammen drohen sogar Einbußen von 50 Millionen Euro.

Wie? Das BASbis 2019 unter dem Namen Bundesversicherungsamt (BVA) bekannt, beaufsichtigt die 63 Bundeskrankenkassen einschließlich der Pflegekassen und berät sie in Fragen der Budgets, Satzungen, des Vermögens und der versicherten Leistungen. In dieser Funktion ist die Behörde insbesondere dafür verantwortlich, dass es zwischen den einzelnen Kassen nicht zu große Ungleichheiten gibt. Bekanntlich gibt es solche, die mehrheitlich junge und gesunde Menschen mit einem regelmäßigen Einkommen unter Vertrag haben – „gute Risiken“ – und solche, die überwiegend ältere, sozial benachteiligte und krankheitsanfällige Menschen als Kunden haben – „schlechte Risiken“. Um einen Ausgleich zwischen allen Anbietern herzustellen, ersann die Politik den „Risikostrukturausgleich“ (RSA). Kassen mit ungünstiger Versichertenstruktur erhalten anteilig mehr Geld, Kassen mit günstiger Struktur entsprechend weniger, und zwar aus dem sogenannten Gesundheitsfonds, in den alle Versicherten ihre Beiträge einzahlen.

Absurder Vorschlag“

Doch nun haben die Verantwortlichen die Ambition, das System weiterzuentwickeln, also die Kriterien und deren Gewichtung untereinander zu verfeinern, um für noch mehr „Gerechtigkeit“ zu sorgen. Einen Anfang dazu haben sie 2021 gemacht. Seitdem berücksichtigt das RSA auch Merkmale, die nicht unbedingt gesundheitsrelevant sind. So spielt bei der Mittelverteilung nun auch der Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen in der jeweiligen Region eine Rolle. Verstehen muss man das nicht, aber die Experten haben sicher ihre Gründe dafür.

Ihr neuester Trick stößt allerdings nicht nur bei den Krankenkassen auf Unverständnis. Skepsis macht sich quer durch das gesamte Parteienspektrum breit. In Sachsen-Anhalt, wo der Plan zuerst die Runde machte, sind nicht nur die Opposition, sondern auch sämtliche Regierungsparteien, also CDU, SPD und FDP, alarmiert. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wird gar mit den Worten zitiert: „Das ist ein absurder Vorschlag, der auf keinen Fall umgesetzt werden darf.“ Er sagte, die Bilddie am Montag die Schlagzeile trug: „Irrsinniger Regierungsplan: Keine Zahnreinigung für Nichtwähler“ (Paywall). Die Schlussfolgerung ist zweifellos übertrieben und ein wenig weit von der Wahrheit entfernt, im Kern aber nicht ganz falsch.

Armut und unzureichende Versorgung

Tatsächlich will der BAS ab kommendem Jahr die Wahlbeteiligung zum Faktor bei der Verteilung der Mitgliedsbeiträge machen, konkret die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl vor drei Jahren. Das könnte durchaus Sinn machen: Wo weniger Menschen wählen, dürfte das allgemeine Bildungsniveau niedriger sein, und es dürfte mehr sozial Benachteiligte geben, die aus Frust der Politik und Demokratie den Rücken gekehrt haben. Auch Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion, denkt in diese Richtung. „Armutsbetroffene wählen seltener, sind dafür aber häufiger und schwerer krank“, stellte sie im Gespräch mit der NachdenkenSeitenWas liegt also näher, als gerade in diesem Umfeld die Gesundheitsversorgung zu verbessern.

Auf keinen Fall! Die Pläne des BAS, die auf 190 Seiten Konzeptpapier ab Juni genau das Gegenteil anstreben. Wo weniger Menschen wählen, fließt weniger Geld an die Krankenkassen. Die Magdeburger Volksstimmedie wiederholt über den Fall berichtet hat (alle Artikel hinter einer Paywall), hat eine Erklärung vom BAS eingeholt. „Wie sich gezeigt hat, ist die Wahlbeteiligung statistisch signifikant mit der Höhe der Über- und Untererfassung auf Bezirksebene verbunden.“ Aha! So steht es bereits in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des RSA aus dem Jahr 2018. Die Wahlbeteiligung könnte also „als Indikator für regionales Sozialkapital“ besichtigt werden, heißt es.

Wer arm ist, stirbt früher

Doch nun kommt das Problem: Wie die Behörde dem Übersetzung erklärt, gehen „eine niedrige Wahlbeteiligung gepaart mit einer Überberichterstattung“ und ein hohes Niveau bei Unterfinanzierung. Überfinanzierung bedeutet, dass die Kassen vom Gesundheitsfonds mehr Finanzmittel erhalten haben, als sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen. Bei Unterfinanzierung beanspruchen die Versicherten mehr, als ihrem Fonds laut Verteilungsplan zusteht. Das BAS kann das Paradoxon auch auflösen. Bei gleicher Morbidität „nehmen Menschen mit niedrigerem Sozialstatus tendenziell weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch“. Die tatsächlichen Ausgaben für Leistungen seien geringer „als die Ausgaben für Leistungen von Menschen mit zum Beispiel höherem Bildungsabschluss oder höherem Einkommen“.

Das ist harte Kost. Es identifiziert ein ernstes soziales Problem – nämlich, dass arme Menschen nicht die Gesundheitsversorgung erhalten, die sie brauchen, obwohl sie im Allgemeinen anerkannter Forschungsstatus sind deutlich häufiger schwer krank und sterben als Angehörige finanziell besser gestellter Schichten. Doch statt die Misere zu bekämpfen und die Kapazitäten des Gesundheitssystems so umzuverteilen, dass auch arme Menschen ihre Krankenversicherung in Anspruch nehmen können, werden die falschen Schlüsse gezogen. Die Gelegenheit wird genutzt, um mehr Ressourcen denen zuzuführen, die ohnehin schon besser versorgt sind – und das Ganze wird offenbar wissenschaftlich untermauert mit dem aus jedem sozioökonomischen Kontext isolierten Pseudo-Erkenntnis: Wer nicht wählt, geht nicht zum Arzt.

Erklärungsbedürftig

Kein Wunder, dass so etwas nicht gut ankommt. Kein Wunder, dass rechtspopulistische Kreise wieder einmal versuchen, das Verfahren zu instrumentalisieren und über ihre Kanäle als Strafe für nicht akzeptables bürgerschaftliches Verhalten zu verhandeln – was natürlich völliger Unsinn ist. Der beim BAS angesiedelte Sachverständigenbeirat hatte im Januar Bewerten selbst stellte fest, dass „eine Operationalisierung auf der Individualebene als Variable ,hat bei der letzten Bundestagswahl mit Ja/Nein gestimmt‘ zwar theoretisch möglich, aber nicht zulässig sei, weil dies gegen den Grundsatz der Wahlfreiheit verstoßen würde und unverhältnismäßig wäre.“ Man habe deshalb beschlossen, „die Variable nicht weiter zu untersuchen.“ Der BAS gab jedoch nicht auf und vertritt heute die Auffassung, dass die Nutzung auf regionaler Ebene „nicht Gegenstand dieses Gutachtens“ war.

Dies steht in einer Klärungwozu sich die Behörde aufgrund „ungenauer“ und „falscher“ Medienberichte gezwungen sah. Nach welchen konkreten Kriterien der RSA für das Ausgleichsjahr 2025 berechnet wird, sei noch nicht abschließend entschieden, erklärte Präsident Frank Plate mit Blick auf die bevorstehende Entscheidung Ende des Monats. Er versicherte zudem, dass es „keinen unmittelbaren kausalen Zusammenhang“ zwischen der Wahlbeteiligung und den Leistungen gebe, die eine einzelne Krankenkasse ihren Versicherten anbietet. Daher seien „Leistungskürzungen einzelner Krankenkassen (…) nicht zu erwarten.“

Fokus auf gefährdete Gruppen

Das bleibt natürlich abzuwarten, denn wo umverteilt wird, gibt es immer Gewinner und Verlierer. So warnte etwa der Magdeburger CDU-Landtagsabgeordnete Tobias Krull vor höheren Beiträgen oder Leistungskürzungen, weil freiwillige Leistungen wie Zahnreinigungen oder Rückenschulkurse bald gefährdet sein könnten. Das ist ein wichtiger Punkt. Es ist davon auszugehen, dass ärmeren Menschen Zusatzleistungen, die über den Standardkatalog hinausgehen, vorenthalten werden, sei es, weil sie diese aus Unwissenheit nicht nachfragen oder weil Ärzte sie aus klammen Haushaltszwängen nicht verschreiben. Gesundheit hat viel mit Wissen, Bildung und Information zu tun. Wer von diesen Ressourcen abgeschnitten ist, läuft auch ein höheres Risiko, zu erkranken oder eine Krankheit nicht rechtzeitig zu erkennen. Solche Versäumnisse schlagen sich auch als „Überdeckung“ in den Bilanzen nieder. Überspitzt gesagt: Ein schneller Tod kostet eine Krankenkasse viel weniger als eine langfristige Therapie zur Erhaltung der Gesundheit.

„Man kann nur verwundert den Kopf schütteln, auf welche skurrilen Ideen sich Gesundheitspolitiker einfallen lassen, um die absurden Wettbewerbsauswüchse der Krankenkassen einzudämmen“, sagte Vogler von der Linkspartei. „Wir brauchen einen grundlegenden Wandel weg vom profitorientierten Gesundheitssystem, und politische Vorgaben haben beim Risikostrukturausgleich erst recht nichts zu suchen.“ Apropos: Faktoren mit klarem Gesundheitsbezug, nämlich Fallzahlen zur „stationären Versorgung“ oder „Pflegebedürftigen“, sollen laut den BAS-Simulationen aus dem RSA-Katalog ausgeschlossen werden. Warum?

Das fragt sich auch Anna Mahler, Sprecherin der AOK Sachsen-Anhalt. „Das Bundesgesundheitsministerium sollte dringend einen Fokus auf vulnerable Gruppen legen“, sagte sie der NachdenkenSeiten“Pflegebedürftige, Zuzahlungsbefreite, Bürgergeldempfänger und Erwerbsminderungsrentner müssen im Verteilungsmechanismus des Risikostrukturausgleichs deutlich stärker berücksichtigt werden. Und selbstverständlich dürfen auch sachfremde Faktoren wie die Wahlbeteiligung keinen Einfluss auf die Finanzierung der Gesundheitsversorgung haben.”

Nicht mit Lauterbach?

BAS-Pressesprecher Alexander Hamacher sieht das anders. „Die Wahlbeteiligung ist einer von mehreren Indikatoren, die regionale soziale Unterschiede widerspiegeln, die sich auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen auswirken“, sagte er der NachdenkenSeiten“Das Instrument trägt dazu bei, einen erheblichen Teil der regionalen Ungleichheiten bei der Mittelverteilung aus dem Gesundheitsfonds abzubauen und verhindert damit einerseits regionale Risikoselektionsanreize und verschafft den Krankenkassen andererseits faire Wettbewerbsbedingungen.” Und wie um die Perfidie des Systems zu beweisen, fügt er hinzu: “Untersuchungen belegen, dass sozial schwächere Bevölkerungsgruppen – also solche, die in Regionen mit geringer Wahlbeteiligung leben – bei vergleichbarer Krankheitslast tendenziell weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen.” Seine Behörde wolle dagegen offenbar nichts unternehmen.

Aber warum nennt Gesundheitsminister Lauterbach das Ganze einen „absurden Vorschlag“? Und warum erst jetzt? Laut Volksstimme sein nordrhein-westfälischer Amtskollege Karl-Josef Laumann (CDU) hatte ihm bereits im Januar geschrieben und ihn aufgefordert, die Regeln nach den Empfehlungen der AOK nachzujustieren – also mehr Rücksicht auf vulnerable Gruppen zu nehmen. Seitdem ist offenbar nichts passiert. Stattdessen ließ er das seinem Ministerium unterstellte Bundesamt eifrig Pläne schmieden, die er nun, kurz vor Ablauf der Frist, per Bild-Zeitung als Unsinn. Weiß Lauterbach etwa nicht, was seine Untergebenen tun, oder hoffte er, dass die Sache unter dem Radar der Öffentlichkeit durchrutscht? Man darf gespannt sein, wie sich die Sache entwickelt. Noch bleiben drei Wochen Bedenkzeit: Am 30. September ist der Tag der Entscheidung.

Titelbild: Elena Babanova/shutterstock.com


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