„Die Bundeskanzlerin lügt“ – Der hilflose Versuch eines Regierungssprechers, Wagenknechts Vorwurf zu entkräften
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bei seiner Sommerpressekonferenz erklärt, dass es Russland sei, das einseitig aus den zentralen Rüstungskontrollverträgen ausgestiegen sei. BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht warf ihm daraufhin Lügen vor. In Wirklichkeit, so Wagenknecht, seien es nachweislich die USA gewesen, die die wichtigsten Verträge (ABM, INF und Open Skies-Vertrag) einseitig aufgekündigt hätten. Da es bisher keinen Einspruch oder ein Dementi aus dem Kanzleramt gebe, sei die NachdenkenSeiten Ob dies ein stillschweigendes Eingeständnis der Unwahrheit der Bundeskanzlerin war, weiß niemand. Die Antwort des Regierungssprechers wurde zu einem unfreiwilligen Geständnis. Florian Warweg .
Faktencheck:
Bundeskanzleramtssprecher Hebestreit weiß genau, warum er auch nach mehrmaliger Nachfrage der Frage ausweicht, wer die ABM-, INF- und Open-Skies-Verträge gekündigt hat. Denn die Fakten sind eindeutig:
- Beendigung
Nachweislich waren es die USA unter George W. Bush, die im Dezember 2001 den Anti-Ballistic Missile Treaty (ABM) unterzeichneten. beendet“Um des Friedens willen” müsse Washington den ABM-Vertrag ignorieren, der “in einer anderen Ära für einen anderen Feind” geschrieben worden sei, erklärte Bush damals und fuhr dann in seiner Begründung fort:
„Wir müssen Amerika und unsere Freunde vor allen Formen des Terrorismus schützen, einschließlich des Terrorismus, der durch Raketen erfolgen könnte.“
- Beendigung
Weiter ging es im Februar 2019 mit der von den USA nachweislich ebenfalls einseitig durchgeführten Kündigung des Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF). Das Abkommen war 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossen worden und verbot landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern, die nukleare Sprengköpfe tragen konnten. Gerade für Europa galt der INF-Vertrag als eine der zentralsten Sicherheitsgarantien, um nicht zum Schauplatz eines nuklearen Schlagabtauschs zu werden.
Im Gegensatz zu Hebestreits Darstellung ist die Aussage, Russland habe diesen Vertrag bereits zuvor verletzt, keineswegs so eindeutig. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, den Vertrag durch die Entwicklung landgestützter Marschflugkörper verletzt zu haben. Russland durch die Entwicklung des Marschflugkörpers 9M729 (NATO-Codename: SS-C-8 Screwdriver) für das nuklearfähige Trägersystem Iskander-K und die USA durch die duale Nutzung der MK-41-Werfer, von denen aus, so der russische Vorwurf, „jederzeit“ Marschflugkörper mit nuklearen Sprengköpfen abgefeuert werden könnten. Diese Systeme seien ab 2016 etwa auf dem rumänischen NATO-Militärflugplatz Deveselu stationiert gewesen. Zudem hatte Russland mehrfach erklärt, Washington habe den Vorschlag, das Problem durch technische Konsultationen zu lösen, abgelehnt. abgelehnt hatte.
- Beendigung
Im Mai 2021 kündigten die USA das dritte Rüstungskontrollabkommen, den sogenannten Open-Skies-Vertrag, erneut einseitig:
Zusätzlich schrieb sterben ZEIT im Juni 2021:
“Die US-Regierung hat Russland Ende Mai darüber informiert, dass sie nicht zum Abkommen zurückkehren wolle. Beim Gipfeltreffen zwischen Putin und US-Präsident Joe Biden am 16. Juni in Genf wird das Thema daher nach russischen Quellen keine Rolle spielen. Russland hat sich wiederholt für eine Rettung des Abkommens ausgesprochen.”
Fazit: Die Kanzlerin hat nachweislich die Unwahrheit gesagt
Dabei ist festzuhalten, dass von den vier zentralen Rüstungskontrollverträgen zwischen den USA und Russland drei von Washington proaktiv einseitig gekündigt wurden. Nur der letzte verbliebene, der „Strategic Arms Reduction Treaty“, besser bekannt unter der Abkürzung START (Strategic Arms Reduction Treaty), wurde im Februar 2023 vom russischen Präsidenten Wladimir Putin suspendiert. Damit gehen 75 Prozent der Kündigungen der Rüstungskontrollverträge auf das Konto des deutschen NATO-Partners USA. Wenn die Bundeskanzlerin vor diesem Hintergrund in der Bundespressekonferenz öffentlich erklärt hat: „Ich bedauere zutiefst, dass Russland sämtliche Rüstungskontrollabkommen der letzten Jahrzehnte so massiv missachtet und sich aus der Rüstungskontrollpolitik zurückgezogen hat“, dann ist dies in dieser Form und Darstellung nachweislich falsch.
Da man davon ausgehen sollte, dass die Bundeskanzlerin weiß, wer die ABM-, INF- und Open-Skies-Verträge tatsächlich als Erster gekündigt hat, lässt sich eine unwissentliche Falschdarstellung mit großer Sicherheit ausschließen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Bundeskanzlerin auf der Bundespressekonferenz am 24. Juli tatsächlich gelogen hat, wie Wagenknecht kritisierte. Und kein einziger anwesender Journalist (der Autor dieser Zeilen war zu diesem Zeitpunkt leider bereits im Urlaub) widersprach seinerzeit Olaf Scholz‘ Falschdarstellung.
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 11. September 2024
Frage Warweg
BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht warf der Bundeskanzlerin eine Lüge vor, als sie hier bei der Sommerpressekonferenz in der BPK erklärte, Russland sei einseitig aus den zentralen Rüstungskontrollverträgen ausgestiegen. Tatsächlich waren es laut Wagenknecht die USA, die aus den ABM-, INF- und Open Sky-Verträgen ausgestiegen sind. Da es hierzu bislang weder ein Dementi noch einen Widerspruch gab, wollte ich fragen, ob wir davon ausgehen können, dass es sich hier sozusagen um ein stillschweigendes Eingeständnis des Kanzleramtes handelt, dass die Bundeskanzlerin in diesem konkreten Fall die Unwahrheit gesagt hat.
Regierungssprecher Hebestreit
Herr Warweg, wenn ich das alles mal außen vor lasse, was Sie in Ihrer Frage so wunderbar verpackt haben, so will ich doch etwas ganz Grundsätzliches sagen: Wenn wir den ganzen Blödsinn dementieren würden, der den ganzen Tag über auf Kanälen wie den von Ihnen gerade genannten ausgestrahlt wird, dann hätten wir zu viel zu tun und könnten unsere eigene Arbeit nicht machen. Sie sollten also nie davon ausgehen, dass wir einverstanden sind, wenn wir es nicht dementieren.
Ansonsten schlage ich vor, dass Sie in die Geschichtsbücher schauen. Es ist noch nicht so lange her. Es gibt das Internet. Dann können Sie es selbst herausfinden.
Zusatzfrage Warweg
Nun ist Frau Wagenknecht meines Wissens kein Sender, sondern Politikerin und sie hat erklärt, die USA seien aus den genannten Verträgen ausgestiegen. Sie sind da anderer Meinung. Mich würde interessieren, ob Herr Hebestreit – – –
Hebestreit
Herr Warweg, ich habe – – –
Zusätzlicher Warweg
Lassen Sie mich kurz ausreden, dann können Sie antworten! – Die Frage richtet sich an Sie und das Auswärtige Amt: Welcher Staat hat aus Sicht des Auswärtigen Amtes und der Bundeskanzlerin die ABM-, INF- und Open Sky-Verträge einseitig gekündigt?
Hebestreit
Herr Warweg, wir sind hier nicht in einer Geschichtsstunde. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass Sie sich selbst informieren können. Sie sind Journalist. Sie können also selbst recherchieren. Sie haben die Worte der Bundeskanzlerin gehört und ich habe Sie auf das Internet und die Geschichte verwiesen. Informieren Sie sich selbst, anstatt Dinge zu verbreiten, die hier nicht hingehören.
Wagner (AA)
Vielleicht darf ich noch etwas ergänzen, denn Ihre Frage lässt darauf schließen, dass das Fehlverhalten sozusagen auf unserer Seite lag. Vielleicht um es noch einmal klarzustellen: Russland rüstet seit Jahren auf, hat den INF-Vertrag verletzt und führt in Europa einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg.
Zusatzfrage Warweg
Ich hätte gern zumindest eine Antwort auf eine relativ einfache Frage: Wer hat aus Sicht der Bundesregierung die ABM-, INF- und Open Sky-Verträge einseitig gekündigt, die USA oder Russland?
Hebestreit
Ich überlege jetzt, wie ich versuchen kann, Ihre Frage noch einmal möglichst freundlich zu beantworten. Deswegen verweise ich auf die Worte des Außenamtssprechers, der Ihnen einen Hinweis darauf gibt, wer den Vertrag gebrochen hat. Ein Vertragsbruch ist eine Kündigung. Wenn wir beide uns über etwas einig sind und ich mich nicht an die Vereinbarung halte, dann habe ich mich nicht an den Vertrag gehalten, sondern ihn gebrochen. So ist das.
Das gesamte Videostatement, in dem die BSW-Vorsitzende ihren Vorwurf, die Bundeskanzlerin habe in der BPK gelogen, darlegt und begründet, können Sie hier ansehen:
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 11.09.2024
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