Die Staatsräson geht über das Völkerrecht
Während unter deutschen Meinungsmachern bereits der Streit darüber entbrannt ist, wie syrische Flüchtlinge möglichst schnell in ihr nun „friedliches“ Land abgeschoben werden könnten, führt Israel seit Samstag einen offenen Krieg in Syrien – zu Lande, zur See und im Inneren , oder noch besser, aus der Luft. Israel wurde mehrfach von den Vereinten Nationen wegen seiner Besetzung und Besiedlung der Golanhöhen verurteilt. Nun hat Ministerpräsident Netanjahu in einer Pressekonferenz die Golanhöhen besichtigt schnell annektiertwährend israelische Truppen bis knapp außerhalb von Damaskus vorrückten, um eine „Pufferzone“ zu errichten. Dies ist ein glasklarer Verstoß gegen das Völkerrecht. In neudeutscher Journalistensprache müsste man wohl von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sprechen. Dies ist jedoch in Deutschland nicht der Fall. Es gibt keine Kritik am Völkerrechtsbruch Israels. Wieder einmal werden im Namen der Daseinsberechtigung mit zweierlei Maß gemessen. Das ist unglaublich. Ein Kommentar von Jens Berger.
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Von Samstagnachmittag bis gestern Abend bombardierte Israel Hunderte syrische Ziele mit massiven Luftangriffen – die Operation war im Gange laut israelischen Quellen die Hälfte der israelischen Luftwaffe war beteiligt. Gleichzeitig zerstörte die israelische Marine die Überreste der syrischen Marine. Nach Angaben israelischer Quellen wurden 80 Prozent der syrischen Waffensysteme innerhalb von nur zwei Tagen von Israel zerstört. Die neue syrische Regierung – egal, was man von ihr hält – muss nun auf die Waffensysteme der Assad-Armee verzichten. Dies bedeutet auch, dass das neue Syrien ohne die vergleichsweise starke Flugabwehr und die Luftwaffe der Assad-Armee den Luftangriffen Israels, aber auch der USA und der Türkei, die ihre Luftangriffe in Syrien ebenfalls fortsetzten, schutzlos ausgeliefert ist nach dem Regierungswechsel.
Vor allem Israel nutzt das am Samstag entstandene Vakuum aus. Bereits im Dezember 2021 verabschiedete die Bennet-Regierung das Intensivierung der Siedlungspolitik auf den Golanhöhen. Auch dies war ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht. Seit 1967 besetzt Israel unter Verstoß gegen das Völkerrecht die syrischen Golanhöhen. 1981 wurde Israel der UN-Sicherheitsrat verliehen Beschluss 497 aufgefordert, den Bereich zu räumen. Israel ignorierte diese Resolution und es gab keine Konsequenzen. Von der UN-Generalversammlung gab es sie seitdem unzählige Vorsätzedie die israelischen Aktionen verurteilen. Allerdings hätten nur harte Resolutionen des UN-Sicherheitsrates völkerrechtliche Konsequenzen, und Israels Schutzmacht USA legt gegen jeden Resolutionsentwurf ein Veto ein. Die USA sind zudem das einzige Land der Welt, das die Besetzung der Golanhöhen durch Israel anerkennt – und das bereits seit 2019 unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump.
Ministerpräsident Netanjahu hat gestern erneut gezeigt, was er zu Fragen des Völkerrechts denkt. In einem Pressekonferenz Er ließ die Welt wissen, dass „die Golanhöhen für immer ein untrennbarer Teil des Staates Israel sein werden“. Wir erinnern uns: Als Putin im Jahr 2014 fast die gleichen Worte Für die Zugehörigkeit der Krim zu Russland gestimmt hat, wurde dies von den USA und der EU nicht nur kritisiert, sondern auch sanktioniert. „Völkerrecht“… wir kennen die Sprüche mittlerweile gut genug. Ist es nicht seltsam, dass die Annexion der Krim durch Russland von deutschen Politikern und Medien so ganz anders gesehen wird als die Annexion der Golanhöhen durch Israel? Oder anders gefragt: Gab es in Deutschland überhaupt eine Debatte über die Rechtmäßigkeit der Annexion der Golanhöhen? Ich weiß nichts darüber. Offenbar ist das Motto „Quod licet Iovi, non licet bovi“ (zu Deutsch: „Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt)“ die Grundlage für Doppelmoral. Aber wen wundert es? Unsere Meinungsmacher, die sonst das Völkerrecht wie eine Monstranz zur Schau stellen, schweigen über den Vernichtungskrieg in Gaza. Und die Frage nach der völkerrechtlichen Grundlage, auf der Israel seit Monaten den Libanon verwüstet, scheint hier niemanden zu interessieren. Aber deshalb haben Sie das Makro für „Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ auf Ihrer Tastatur. Es ist alles in Ordnung.
Und wenn wir schon beim Thema Völkerrecht sind: Was genau ist die völkerrechtliche Grundlage dafür, dass israelische Truppen jetzt in Syrien einmarschieren? Vielleicht kann es mir einer der professionellen Talkshow-Erklärer aus den verschiedenen Think Tanks erklären. Ich bin nur ein dummer kleiner Journalist, der nicht weiß, dass es im Völkerrecht einen Passus gibt, der die einseitige Einrichtung einer „Pufferzone“ zur Vorwärtsverteidigung des eigenen Landes vorsieht. Aber wer weiß, vielleicht gibt es so etwas. Wenn Wladimir Putin das im Jahr 2022 nur gewusst hätte. Wenn er die Invasion der Ukraine als die Errichtung einer Pufferzone zur Verteidigung seines eigenen Landes bezeichnet hätte, dann hätte er dieser Logik zufolge im Einklang mit dem Völkerrecht und unserer Politik gehandelt und Medienexperten hätten dem sicherlich zugestimmt – so wie jetzt auch Netanjahus Vorwärtsverteidigung zustimmt.
Nur die UNO scheint anderer Meinung zu sein – mal wieder. Der UN-Gesandte für Syrien ist Geir Pedersen und ein norwegischer Diplomat. Und derselbe Geir Pedersen forderte Israel noch einmal aufum die Angriffe auf Syrien zu stoppen. Der UN-Sonderberichterstatter für die Förderung der Menschenrechte ist Ben Saul. Er ist ein australischer Rechtswissenschaftler und ein weltweit anerkannter Experte für internationales Recht. Er sagte gestern zur Weltpressedass es „völkerrechtlich absolut keine Grundlage dafür gibt, ein Land, das man nicht mag, präventiv zu entwaffnen“. Das israelische Vorgehen sei „völlig gesetzeswidrig“.
Bereits am 3. Dezember verurteilte die UN-Generalversammlung Israel erneut Auflösung einstimmig aufgefordertum die Golanhöhen zu räumen. Aber an solchen Resolutionen hat Israel kein Interesse – es gibt auch solche zum Krieg in Gaza unzählige UN-Resolutionendie von Israel einfach ignoriert werden.
Ja, so ist es mit dem Völkerrecht. Das Verhältnis der deutschen Politik zu den deutschen Medien und dem Völkerrecht ist ein taktisches. Wenn der Westen und vor allem die USA und Israel gegen das Völkerrecht verstoßen, tun Sie so, als hätten Sie den Begriff „Völkerrecht“ noch nie in Ihrem Leben gehört. Wir sind die Guten! Und als guter Mensch stehen Sie über dem Gesetz. Wenn Israel das Völkerrecht missachtet, ist deutsches Schweigen sogar Staatsräson. Aber leider bricht Russland das Völkerrecht. Das wiederholt sich dann in Endlosschleife, bis selbst der letzte Wellensittich in Hintertupfingen, der ab und zu Radio hört oder fernsieht, plötzlich „Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ krächzt.
Titelbild: Barbara Ash/shutterstock.com
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