Arzt & Klinik

„Es bräuchte Zeit, Zeit und noch mal Zeit“


Warum treibt Sie das Thema „Medizin für Menschen mit Behinderung“ um?


Weil ich die Medizin für Menschen mit Intelligenzminderung (IM) in Deutschland leider noch weit entfernt sehe von einer adäquaten Versorgung. Das spüre ich in meiner täglichen Arbeit zum Beispiel, wenn ich Menschen mit IM und herausforderndem Verhalten zur stationären Abklärung einer unklaren Situation einweisen will, zum Beispiel bei starker Gewichtsabnahme. Es macht mich jedes Mal wieder wütend, wenn ich hier gegen strukturelle Hürden ankämpfe oder daran scheitere. Ich führe immer wieder Telefonate ohne Ende bis ich eine Klinik finde, die die Patientin oder den Patienten aufnimmt – und dann wird er oder sie manchmal wieder entlassen und es ist nur ein Teil der notwendigen Diagnostik gelaufen und das Telefonieren geht von vorn los. Ich erlebe immer wieder Situationen, in denen ich mich allein gelassen fühle.


Das heißt, Kliniken können und wollen sich die Behandlung Ihrer Patienten nicht leisten?


Ich kann Kollegen im somatischen Krankenhaus verstehen, die sagen: Wir können diesen Patienten bei uns nicht führen, uns fehlen hierfür die personellen und strukturellen Ressourcen. Und die Kollegen in der Psychiatrie erklären mir wiederum, dass sie keine somatischen Abklärungen durchführen können. Medizin für Menschen mit IM und komplexer Behinderung kostet viel Zeit – und die ist im „normalen“ System durch die intensiveÖkonomisierungim Gesundheitswesen nicht mehr vorhanden. Da fallen dann die schwächsten Patientengruppen hinten runter, die früher im Rahmen von Mischkalkulationen mitgeführt werden konnten.


Aufmerksam machen wollen Sie auch darauf, dass Menschen mit intellektueller und komplexer Behinderung spezifische Probleme in der medizinischen Versorgung haben. Sie sagen, das sei vielen Kollegen so nicht bewusst.


Das Thema läuft nach meiner Einschätzung unter dem Aufmerksamkeitsradar – und zwar so lange, bis man mit einem „Fall“ konfrontiert wird, bei dem man mit seinen üblichen Vorgehensweisen nicht weiterkommt. Dann wird improvisiert und der „Fall“ über Versuch und Irrtum gelöst. Viele Kollegen zeigen hierbei hohes Engagement. Es kann aber passieren, dass man gar nicht merkt, dass ein Problem vorliegt. Zum Beispiel wenn der Betreffende massive Schmerzen hat, diese aber bei fehlender Verbalsprache nicht in gewohnter Weise äußert. So kommt es, dass eine Fraktur nicht diagnostiziert wird und die Schmerzen schlichtweg nicht behandelt werden, weil man sie nicht erkennt. Das ist gar nicht so selten. Für viele Kollegen ist dies ein Einzelfall und sie wissen nicht, dass diese Situation viele andere Kollegen schon so oder ähnlich hatten. Und sie wissen nicht, dass es in diesem Bereicherfahrene Kollegen gibt, die auf solchen Erfahrungen aufbauend Handlungsempfehlungen entwickelt haben, die verhindern sollen, dass immer wieder die gleichen Fehler gemacht werden. In verschiedenen Studien wurde untersucht, inwieweit Todesfälle bei Menschen mit Intelligenzminderung vermeidbar gewesen wären. Australische Forscher kamen 2017 auf 38 Prozent versus 17 Prozent bei Menschen mit typischer Entwicklung.


Es gibt inzwischen auch ein Curriculum der Bundesärztekammer für die besonderen Probleme in der Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung.


Genau. Diese Zusatzqualifikation halte ich für sehr sinnvoll für Hausärzte, die Einrichtungen der Eingliederungshilfe betreuen. Ich habe sie selbst durchlaufen. Da erfährt man dann Dinge, von denen man im Studium nie gehört hat. Es gibt übrigens auch Länder, in denen man sogar einen Facharzttitel in diesem Bereich erwerben kann.


Was hat es mit den HospitanzTagen auf sich, die Sie seit kurzem in Ihrer Praxis anbieten?


Schon seit vielen Jahren engagiere ich mich für den ärztlichen Nachwuchs und habe regelmäßig Studierende zur Famulatur oder zum Blockpraktikum bei mir in der Praxis. Da bekomme ich immer wieder rückgemeldet, dass die Arbeit mit den behinderten Menschen einen bleibenden Einblick hinterlassen habe, weil das Thema sonst nirgendwo so im Studium vorkomme. Daran möchte ich etwas ändern. Professor Marco Roos vom Allgemeinmedizinischen Institut der Uni Augsburg hat diesen Wunsch aufgegriffen und so gibt es dort seit dem Wintersemester ein Wahlpflichtfach „Medizin für Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung“. Innerhalb dieses Seminars ist eine Hospitation bei mir vor Ort mit Eins-zu-Eins Betreuung verpflichtend. Super ist, dass die Stiftung des Bayerischen Hausärzteverbandes die Studierenden unterstützt, indem sie die Fahrtkosten übernimmt. Bei keinem soll es am Geld scheitern, dass er oder sie teilnehmen kann.


Was tun Sie sonst noch, um Kollegen fürs Thema zu sensibilisieren?


Ihnen dieses Interview geben und hoffen, dass es viele Kollegen und Entscheidungsträger lesen. Und ich biete Fortbildungen zum Thema an: Wir haben aus der AG Inklusive Medizin des Bayerischen Hausärzteverband heraus eine Nachmittags-/Abendfortbildung entwickelt, die wir den bayerischen KollegInnen anbieten. Dieses Jahr im Herbst wird es auf der Praktika in Bad Orb außerdem erstmalig einen Workshop zum Thema für Kolleginnen und Kollegen aus ganz Deutschland geben.


Wie schwierig ist es andernorts für Menschen mit Behinderung, einen Hausarzt zu finden?


Fundierte Studien zur Medizinischen Versorgung von Menschen mit IM liegen nicht vor, sodass ich Ihnen diese Frage nicht seriös beantworten kann. Einrichtungen der Eingliederungshilfe in größeren Städten haben mir aber schon berichtet, dass sie keinen Arzt mehr finden, der zu ihnen in die Einrichtung kommt oder Erfahrung mit behinderten Menschen hat. Das Thema betrifft übrigens auch die fachärztliche Versorgung. Es scheint insbesondere dort ein Problem zu sein, wo gewinnorientierte investorengeführte MVZs überhand nehmen.


Wo hakt es in anderen Arztpraxen?


Vorneweg an der Zeit und am Geld, denn der behinderungsbedingte Mehraufwand wird nicht bezahlt. Dies betrifft den ambulanten haus- und fachärztlichen Bereich ebenso wie den stationären. Der politisch gewollte Wettbewerb im Gesundheitswesen fördert den Wettbewerb um Patienten, bei denen das Geld leicht verdient ist – hierzu gehören schwer behinderte Menschen nicht. Eine Online-Terminvergabe beispielsweise ist etwas Wunderbares für junge, gesunde Menschen. Es gibt bereits Praxen, die nur noch online Termine vergeben. Da ist nach meiner Kenntnis der Zeitslot für alle gleich, Zeit für einen behinderungsbedingten Mehraufwand ist nicht vorgesehen. Warum soll man auch als gewinnorientiertes Unternehmen, das seinen Investoren verpflichtet ist, Zeit investieren, die nicht honoriert wird?


Sie sagen außerdem, es fehle am Wissen. Konnten Sie denn aus Ihrem Studium Wissen mitnehmen, das ihnen nun zum Beispiel beim Thema Intelligenzminderung weiterhilft?


Ich habe im Studium zum Thema Intelligenzminderung eigentlich nur gelernt, mit welchem IQ man die Menschen Begriffen wie Imbezil oder Debil, etc. zuordnet. Das wars! Von meinen deutlich über 200 Menschen mit IM liegt mir für die wenigsten ein Intelligenztest vor und ich habe auch keine Ambitionen, diesen zu veranlassen, um sie dann in Schubladen einzuordnen. Das wird den Menschen nicht gerecht.

Ich muss ganz andere Dinge wissen: Wie ist das Verständnis für Verbalsprache? Wie ist die verbalsprachliche Ausdrucksfähigkeit? Liegen bei der betreffenden Person autistische Verhaltensweisen vor und wenn ja, wie gehe ich damit um? Wie ist das Schmerzempfinden oder die Körperwahrnehmung des jeweiligen Menschen und wie drückt er oder sie das aus? Das alles richtig einzuschätzen, habe ich weder im Studium noch in der Weiterbildung gelernt.


Wie sähe eine optimale inklusive Hausarztpraxis aus?


Es bräuchte Zeit, Zeit und noch mal Zeit; eine Ärztin, die das Curriculum der Bundesärztekammer für Menschen mit geistiger und komplexer Mehrfachbehinderung absolviert hat; Personal, das die einfache Sprache beherrscht; Erfahrung im Umgang mit autistischen Verhaltensweisen und sonstigem herausforderndem Verhalten; behindertengerechte Räumlichkeiten sprich einen barrierefreien Zugang für Rollstühle, eine behindertengerechte Toilette, eine gute Beleuchtung und Schilder, die Sehbehinderten entgegen kommen; eine gute Vernetzung mit Fachärzten, die Kompetenz im Umgang haben; einen guten Draht zum Medizinisches Behandlungszentrum für erwachsene Menschen mit Behinderung (MZEB) und eine Station im Krankenhaus, die ebenfalls ganz speziell auf die Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Aktuell kann ich allerdings nicht wirklich empfehlen, Geld und Zeit in die Hand zu nehmen, um eine Praxis so auszurichten, dass der Anteil derjenigen Patienten steigt, deren Behandlung sehr zeitintensiv ist. Denn es geht um Zeit, die nicht adäquat honoriert wird.


In der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, die Gesundheitsleistungen anzubieten, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden – und das so gemeindenah wie möglich: Welche politischen Forderungen knüpfen Sie daran?


Die für mich aktuell wichtigste politische Forderung ist die nach speziellen Stationen, die in der Lage sind, eine adäquate Diagnostik und gegebenenfalls Therapie für diese Personengruppe zu schaffen. Deutschland hat der UN-Behindertenrechtskonvention zugestimmt, sie ist daher formal für uns gültig. Wir benötigen spezielle Stationen für Menschen mit schwerer komplexer Behinderung und Intelligenzminderung, aber wo finde ich bei mir im Umkreis von 200 Kilometern eine solche Station, die im Bedarfsfall meine Patienten aufnimmt?

Mit der angedachten Krankenhausstrukturreform sorgen sich nun gerade die wenigen handverlesenen Krankenhäuser in Deutschland, die hier spezifisch arbeiten, um ihre weitere Existenz, denn: Diese Stationen sind traditionell nicht an Krankenhäusern der Maximalversorgung zu finden, sondern oft aus größeren Einrichtungen der Behindertenhilfe heraus entstanden. Es wird gerade ein Papier erarbeitet, das diese Problematik genauer schildert. Was außerdem spannend ist in der UN-Behindertenrechtskonvention: Die Vertragsstaaten verpflichten sich zur Sammlung geeigneter Informationen einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten, die es ermöglichen sollen, politische Konzepte zur Durchführung dieses Übereinkommens auszuarbeiten und umzusetzen. Wo sind diese Statistiken und Forschungsergebnisseüber die medizinische Versorgung von Menschen mit komplexer Behinderung und schwerer Intelligenzminderung? Wie sieht das Konzept zur Durchführung des Übereinkommens bezüglich ihrer Medizinischen Versorgung aus? Hat Deutschland überhaupt eines?


Vor wenigen Tagen waren Sie mit angehenden Kolleginnen und Kollegen auf Exkursion in der Tötungsanstalt Grafeneck. Dort wurden im Jahr 1940 im Rahmen der Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus,
der so genannten Aktion T4,
systematisch 10.654 Menschen mit Behinderung getötet. Warum ist Ihnen auch die historische Aufklärungsarbeit wichtig?


Ärztliches Handeln braucht ärztliche Haltung. Diese ärztliche Haltung ist insbesondere in der Behandlung von Menschen sehr wichtig, die selbst nicht für ihre Rechte kämpfen können. Ärztliche Haltung zu entwickeln, ist Teil unseres Ausbildungsauftrages. Wohin das Fehlen einer ärztlichen Haltung oder gar eine unärztliche Haltung führen können, lehrt uns die Geschichte: Es waren Ärzte, die die Gashähne aufdrehten oder Luminal verabreichten und so zu Massenmördern wurden.

Und: Es waren Ärzte, die vielen Tätern mit Gutachten über eine vermeintliche Verhandlungsunfähigkeit dazu verhalfen, sich nicht für ihr Handeln verantworten zu müssen. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass es nicht selbstverständlich ist, dass schwerbehinderte Menschen als gleichberechtigt angesehen werden – und dass wir uns immer wieder dafür einsetzen müssen.

Lange Zeit gab es aufgrund der deutschen Geschichte fast keine älteren Menschen mit schwerer komplexer Behinderung, allenfalls behinderte Kinder, später junge Erwachsene. Wie beeinflusst dies die Gegenwart?

Macht man sich das bewusst, kann man etwas verstehen, warum wir in Deutschland so einen Nachholbedarf haben, was die Ausbildung und Forschung bezüglich Medizin für erwachsene Menschen mit schwerer komplexer Behinderung mit Intelligenzminderung betrifft. Meine Generation, die jetzt Verantwortung für die Aus- und Weiterbildung trägt, hat das schlicht selbst nicht gelernt. Das Thema war zur Zeit unserer Ausbildung nicht präsent und noch dazu tabubesetzt. Es waren ja teilweise immer noch Menschen in Verantwortung, die ins NS-System verstrickt waren und hinter der sogenannten „Euthanasie“ standen.Warum – und davon gehe ich aus – lieben Sie die Arbeit mit Menschen mit Behinderung?


Ich liebe meinen Beruf als Hausärztin, die für eine gute medizinische Versorgung der unterschiedlichsten Menschen mit unterschiedlichsten Problemen zuständig ist. Und da gehört für mich die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ganz einfach ganz selbstverständlich dazu. Und es kommt auch etwas zurück, zum Beispiel, wenn eine Patientin mit IM mich auf der Straße erkennt, freudestrahlend auf mich zuläuft und sagt „Ich kenn´ Dich, Du bist die Arzt“. Da bin ich einfach gerne „die Arzt“!


Vielen Dank, Frau Dr. Schaaf, für das Gespräch.


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