Iranerin zerreißt bei Markus Lanz (ZDF) ihren Pass: „Die Freiheit ist nah!“
„Markus Lanz – Das Jahr 2022“ mit zwei wirklich emotionalen Szenen und der Erkenntnis, dass Herbert Grönemeyer immer noch nicht tanzen kann.
Gefühlt hundert Jahresrückblicke im deutschen Fernsehen. Da darf Markus Lanz natürlich auch nicht fehlen… Nach dem Debakel von „Menschen, Bilder, Emotionen“ mit dem zwar sympathischen, aber doch etwas in die Jahre gekommenen Thomas Gottschalk und dem gelinde gesagt recht hölzern agierenden, ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg bei RTL kann es eigentlich nur besser werden. Und siehe da! Obwohl fast identische Themen wie Corona, der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die UEFA-Fußball-Europameisterschaft der Frauen in England, der FIFA WM 2022 der Männer in Katar, der Tod der Queen und der Klimawandel abgehandelt werden, ist das Niveau im ZDF doch höher als bei den Kollegen vom Privatfernsehen.
Lanz nimmt sich Charlie Chaplin in „Der große Diktator“ zum Vorbild. Er hält allerdings nicht wie dieser am Ende eine flammende Rede auf die Menschlichkeit in schweren Zeiten, sondern gleich zu Beginn: Nachdem „2021 die andere Version von 2020“ gewesen sei, habe ihm 2022, wo einerseits „der Krieg das Schlimmste im Menschen hervorbringt“, andererseits besonders bewegt, „dass Menschen bereit waren, zu kämpfen, für ihre Art zu leben.“ Er führt aus: „Das hat Putin unterschätzt. Das haben die Mullahs unterschätzt.“ Und schafft damit die Überleitung zu den mutigen Protesten im Iran gegen das dortige Regime.
Proteste im Iran bei Markus Lanz: Es geht um „das Ende des Regimes!“
Es werden Fotos von Kindern und Jugendlichen, die im Zuge der Demonstrationen von Schergen der Regierung erschlagen oder aufgehängt wurden, eingespielt. Sie geben dem Unrecht in der Islamischen Republik ein anklagendes Gesicht. Insgesamt 470 Menschen sind dort im Zuge der Demonstrationen bereits hingerichtet worden, 18.200 inhaftiert! Über den von Frauen angeführten Kampf für die Rechte der Frauen berichtet die Journalistin Natalie Amiri. Sie sagt: „Die Menschen im Iran wollen die Islamische Republik nicht mehr. Sie wollen keine Reformen. Es geht um das große Ganze: Das Ende des Regimes!“
Neben ihr sitzt eine erst kürzlich geflüchteten Iranerin, die zwölf Tage in Einzelhaft saß, weil an ihrer Bekleidung ein Knopf fehlte! Aus Sicherheitsgründen wird sie vom Moderator nur als „Banoo“ angesprochen. Das ist sicherlich gut gemeint, aber dennoch heikel, weil von den Machthabern im Iran sicherlich auch deutsche Fernsehsendungen ausgewertet werden, in denen ihre Staatsbürger sich systemkritisch äußern. Denn „Banoo“ tritt ja nicht verschleiert auf und kann also von ihnen sofort identifiziert werden.
Iranerin bei Markus Lanz: „Ich dachte, sie bringen mich um!“
Umso bewunderungswürdiger ist ihr Auftritt. Sie erzählt, wie sie in der Haft vernommen und dabei beschimpft und geschlagen wurde: „Ich dachte, sie bringen mich um!“ Während des Verhörs musste sie die ganze Zeit stehen. Als sie wieder in der Zelle gebracht wurde, hörte sie nebenan das Weinen eines jungen Mädchens und da vergaß sie ihren eigenen Schmerz, wünschte, sie könnte wie eine Mutter das Mädchen in den Arm nehmen und trösten. Lanz und Amiri sind sichtlich angefaßt – und auch der Verfasser dieser Zeilen, dessen armenischer Vater in Täbris geboren wurde und der selbst als waschechter Frankfurt Bub bei Besuchen zu Schah-Zeiten in den 1970er Jahren Teheran als märchenhaftes New York des Orients, wo schier alles möglich war, kennenlernte und dies später in Artikeln auch so beschrieb.
Als man „Banoo“ schließlich aus der Haft entließ, hatte sie zwar weiterhin Angst um ihr Leben, gab aber nicht auf. Bei Lanz erzählt sie, wie sie – hinter ihrem Mann auf dem Motorrad sitzend – Flyer verteilte, indem sie ihre Wut gegen den Unrechtsstaat zum Ausdruck brachte. Zum Beweis wird ein von ihr zur Verfügung gestelltes Video eingespielt. Und dann folgt ein wirklich aufrüttelnder Moment! Zu den Worten „Wir erkennen die Islamische Republik nicht an! Die Freiheit ist nah!“, nimmt sie ihren iranischen Pass in die Hände und zerreißt ihn vor laufender Kamera! Was für ein Auftakt der Sendung!
Markus Lanz (ZDF): Europa-League Sieg von Eintracht Frankfurt als Sporthöhepunkt 2022
Lanz, der stammelt „Das wird nicht ohne Nachhall bleiben“, fällt es sichtlich schwer, zum nächsten inhaltlichen Block überzuleiten. In einem kurzen Film werden die Sporthöhepunkte von 2022 gezeigt. Der sensationelle UEFA-Euro-League-Gewinn von Eintracht Frankfurt ist dabei. „Uns Uwe“ Seeler, der im Juli mit 85 starb, wird gewürdigt, nicht aber „Mr. Eintracht“ und Fußballweltmeister Jürgen Grabowski, der 77-jährig vier Monate vor ihm verschied. Lanz will lieber über das „Sommermärchen“ der deutschen Fußballfrauen, die bei der EM Zweiter hinter Gastgeber England wurden, und das vorzeitige Ausscheiden der Männer bei der WM in Katar reden. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg und ZDF-Sportmoderatorin Katrin Müller-Hohenstein ist das aufgrund der zuvor diskutierten Situation im Iran „zu banal“.
Doch Lanz findet, dass man in einem „schwierigen Jahr“ auch den „Moment der Erlösung“ bräuchte und den hat er beim guten Abschneiden der deutschen Fußballfrauen bei der EM gefunden. Schließlich seien auch die Einschaltquoten höher als bei den Männern gewesen. Der Bundestrainerin ist dies zu hoch gegriffen: „Wir haben den Menschen Freude geschenkt – in einer schwiegen Zeit der Ängste und Sorgen.“ Sie wisse, „dass es in der arabischen Welt Benachteiligungen für Frauen und Mädchen gibt.“ Ob sie denn mit ihrem Team bei einer Frauenfußball-WM in Katar antreten würde, möchte Lanz hypothetisch wissen. Wenn tatsächlich ein solcher Wettbewerb in besagtem Land, wo die Menschen- und vor allem Frauenrechte mit Füßen getreten würden, stattfinde, hätte sich doch „vieles zum Guten verändert“, entgegnet sie diplomatisch, während Müller-Hohenstein gleiche Bezahlung von Damen und Herren beim Fußball fordert. Die 60.000 Euro, die die Frauen pro Teammitglied für den EM-Gewinn vom DFB hätten erhalten können, nehmen sich doch mehr als bescheiden gegen die 400.000 Euro pro Spieler für den in weite Ferne gerückten WM-Titel der Männer aus.
Bewegendes Schicksal des Ukraine-Krieg
Der darauf folgende Abschnitt in der Rückschau über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine erschüttert einen ähnlich wie die Iran-Problematik. Das liegt vor allem am Auftritt von Hanna Polonska, einer Überlebenden des Massakers von Butscha. Sie wird von der für ihre dortige Arbeit ausgezeichneten ZDF-Korrespondentin Katrin Eigendorf und der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) flankiert, die – wie auch Lanz – tief betroffen, ihrem tragischen Schicksal lauschen. Die Deutsch-Lehrerin war im siebten Monat schwanger, als sie im Auto beschossen wurde. Ihr Mann starb und sie verlor auch ihr noch ungeborenes Baby. Das ganze Ausmaß des Grauens habe sie begriffen, „als ich im Blut meines Mannes war. Ich muss jetzt allein für mich kämpfen. Das einzige, was mir geblieben war, ist meine Hündin.“ Diese überlebte ebenfalls wie durch ein Wunder. Als sie von ihr erzählt, bricht sie in Tränen aus. Wie wichtig ihr diese Hündin ist, kann der hier emphatisch agierende Moderator „gut verstehen“. „Jeder Tag fängt damit, dass ich mir Mühe geben muss, aufzustehen“, gesteht sie. Doch inzwischen arbeitet sie wieder.
Als sie am 14. September nach Deutschland kam, war das endlich „der erste Tag, wo ich mal wieder ausschlafen konnte“. Berechtigter Weise fragt sich Markus Lanz: „Woher nimmt sie diese Kraft her?“ Nach Butscha, der noch bis Anfang des Jahres „schönsten ,saubersten und ruhigsten Stadt der Ukraine“, möchte Polanska allerdings nie mehr zurückkehren. Und das nicht aus aus dem Grund, weil sie dort die Hölle erlebt hätte, sondern zuvor „die besten Momente meines Lebens“. Ohne Strom und ohne Heizung zu leben, „alles“ sei besser als mit den Russen. Deswegen ist sie dankbar, jetzt in Deutschland zu wohnen, wo sie auch die zwei anderen Dinge habe.
Indes hat zuletzt ein russischer Deserteur über den Krieg und seine Gräueltaten berichtet.
Gerhart Baum (FDP) über Putin: „Dieser Mann muss weg!“
Ergänzend spricht über die aktuelle Lage auf russischer Seite und den unterdrückten Widerstand aus der russischen Gesellschaft Irina Scherbakowa. Die Mitbegründerin der gerade mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Menschenrechtsorganisation „Memorial“ räumt ehrlich ein, dass sie erst zum „Stoplerstein“ gegen Putin und seine Erfüllungsgehilfen durch einen „langen Weg der Anpassung“ habe werden können. Mit ihr diskutiert der ehemalige Innenminister Gerhart Baum (FDP), der auch noch mit 90 Jahren von wacher Intelligenz geleitet ist. Nach wie vor setzt er sich vehement für die Menschenrechte ein, wobei seine familiären Wurzeln sowohl in die Ukraine als auch nach Russland reichen. Er möchte das Gespräch gern ausweiten, denn niemand habe zuvor Myanmar genannt, wo „junge Männer ebenfalls aufgehängt werden, weil sie anders denken“. Zum russischen Präsidenten hat er nur eine Meinung: „Dieser Mann muss weg!“ Seine Regierungszeit sei mit Krieg und Unrecht nach dem Motto „nach innen immer autoritärer, nach außen immer aggressiver“ verbunden.
„Ich denke, dass wir grundsätzlich nie damit aufhören sollten, Haltung zu bewahren!“, wirft Singer-Songwriter (und Ex-Schauspieler) Herbert Grönemeyer ein. Er sagt, was sich andere nicht trauen: „Wir sind geistig komplett überfordert“. Das erleichtere Putin, „sein Spiel zu spielen“. Dieser greife als „Macho“ Frauen und Kinder an – das sei einfach nur „perfide“. Danach zeigt Lanz gegenüber „Fridays for Future“-Aktivistin Carla Reemtsma „großen Respekt für das, was Sie tun“. Das klang in seinen vorherigen Sendungen noch ganz anders, wo er Klimaaktivisten niederbügelte. Für Klimaforscher Mojib Latif ist das Festkleben der selbsternannten „Letzten Generation“ an Eingängen und auf Straßen jedenfalls „kontraproduktiv“. Die Klimakrise könne man nur durch internationale Kooperation meistern. Für Reemtsma hingegen müsse jetzt die „Regierung erst einmal liefern“. Der erste Ansatz von einem Streitgespräch an diesem Donnerstagabend.
Söder (CSU) und Merz (CDU): Die ewige Frage der Kanzlerkandidatur
Auch die größte Oppositions-Fraktion in diesem Land kommt im Jahresrückblick zu Wort. Der Moderator versucht CSU-Chef Markus Söder und dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, die beide zugeschaltet sind, Details über ihre persönliche Beziehung zueinander zu entlocken: „Sie sind befreundet – oder wie darf ich das verstehen?“ Nach einer verdächtig langen Pause meint Merz schließlich, der seine verbalen Entgleisung „Sozialtourismus“ in der Einbürgerungsfrage nach einer halbherzigen Entschuldigung nicht mehr weiter kommentieren will, man verstehe sich außerordentlich gut. Aber: „Wir gehören nicht zu unserem engsten Freundeskreis.“ „In der Politik ist das mit Freundschaft immer so ‚ne Sache“, befindet darauf Söder. „Aus Sympathie“ habe er jedoch fast die gleiche Lesebrille wie sein Fraktionskollege. Spricht’s und setzt sich sein tatsächlich sehr ähnlich aussehendes Sehgestell auf die breite Nase.
„Welche Brille macht die Kanzlerkandidatur?“, bleibt Lanz beim Wortspiel. Das wird laut Merz gemeinsam entschieden, „wenn es denn dann so weit ist“. „Friedrich, lass dich nicht aus dem Konzept bringen“, erschallt es von Söder geradezu brüderlich. Und an den Gastgeber gewandt: „Herr Lanz, Sie sind ein alter Stichler! Gutes Neues Jahr! Und bleiben Sie so, wie sie sind.“ Last but not least darf im Altonaer Studio der unvermeidliche Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) noch über das Ende der Pandemie spekulieren. Die Aussage von US-Präsident Joe Biden – „Corona ist vorbei“ – teile er jedenfalls nicht. Und von dessen Gesundheitsberater, mit dem er (gemeint ist unser „Karl der Große“) befreundet sei, wäre sie garantiert nicht eingeflüstert worden. Biden habe nicht wissenschaftlich, sondern politisch argumentiert. Wie Lauterbach damit zurechtkomme, eine „öffentliche Reizfigur“ zu sein, möchte Lanz noch wissen. „Ich muss damit leben!“, lautet die lapidare Antwort. Allerdings würde es schon seinen Alltag beeinträchtigen, doch Selbstmitleid sei fehl am Platz: „Ich irre mich lieber als Epidemiologe auf der vorsichtigen Seite, als auf der anderen Seite.“
Karl Lauterbach (SPD) rät: Zum Eltern-Besuch zu Weihnachten „zwei Mal testen“
Vielleicht könne er, der Politiker und Wissenschaftler, im Frühjahr das tatsächliche Ende der Pandemie verkünden. Zum Weihnachtsfest sollen sich alle aber noch mindestens zwei Mal testen, die ihre Eltern besuchen wollen. So sein „Werbeblock“, wie er nicht ohne Selbstironie, anmerkt. „Das machen wir gemeinsam. Ich helfe, wo ich kann“, fügt Lanz etwas ölig an. Nachdem so viel geredet wurde, darf zum endgültigen Abschluss dieser Rückschau auch noch gesungen werden. Der von Lanz als „Spezialist für Mut und Zuversicht und auch Humor“ apostrophierte Grönemeyer gibt mit seinen Musikern und weiblichen Banking Vocals „Deine Hand“ zum Besten. Darin heißt es:
„Deine Hand gibt mir
Den Halt, den ich so dringend brauch‘, um nicht
Zu brechen, halt‘ sie fest, und wir, und wir
Wir könnten uns noch retten“
Grönemeyer kann anno 2022 immer noch nicht wirklich singen, geschweige denn tanzen, aber seine Texte sind gut. Auch eine Erkenntnis des scheidenden Jahres. (Marc Hairapetian)
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