Politik

Ohne Druck von unten wird sich nichts ändern! – Warum wir dringend eine schlagkräftige „Friedensbewegung 2.0“ brauchen

Selbst wenn der Krieg in der Ukraine früher oder später zu einem Ende kommen sollte – in welcher Form auch immer –, so werden die Menschen in Deutschland und Mitteleuropa auf unabsehbare Zeit in der Nähe eines Krieges leben. – Es sei denn, es gibt hiergegen endlich einen starken zivilen Widerstand! Leo Ensel.

Dieser Artikel ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Machen wir uns klar, in welcher Lage wir Deutsche, nein: wir Europäer im Westen und im Osten uns befinden – und das nicht erst seit gestern.

Wir befinden uns nicht mehr in einem neuen Kalten Krieg, spätestens seit dem 24. Februar 2022 tobt mitten in Europa auf dem Territorium der Ukraine ein offener heißer Krieg: ein blutiger Stellvertreterkrieg zwischen dem „kollektiven Westen“ (USA, NATO, EU) auf der einen Seite und Russland auf der anderen. Wie auch immer dieser Krieg ausgeht – es sei denn, er eskaliert über das Vorhersehbare hinaus, was durchaus möglich ist –, alles sieht so aus, als ob A Die Folge wäre eine erneute Teilung unseres europäischen Kontinents, eine erneute permanente Konfrontation zwischen ‚West‘ und ‚Ost‘ mit einer neuen Demarkationslinie: einer etwa 1.500 Kilometer nach Osten verschobenen ‚Berliner Mauer‘, die die Ukraine irgendwo von Nord nach Süd teilen würde.

Die von der Bundesregierung und den USA allein beschlossene „Aufrüstung 2.0“ (ob nuklear oder „konventionell“ ist noch unklar) und die russischen Gegenmaßnahmen, die spätestens mit der Stationierung von Marschflugkörpern und Hyperschallraketen in Deutschland zwingend werden, bringen Deutschland und Mitteleuropa in eine alarmierender Zustand permanenter Kriegsgefahr denn von da an genügt ein Funke, um dieses Pulverfass zur Explosion zu bringen – absichtlich oder versehentlich. In diesem Zustand permanenter Kriegsnähe – der für Deutschland und Mitteleuropa nichts anderes bedeutet als permanente Nähe zur Zerstörung würde bedeuten – wir müssen von da an auf unbestimmte Zeit leben.

Sofern es nicht zu breiten Protesten und gar zivilem Widerstand kommt, ist eine Friedensbewegung 2.0 längst überfällig!

Damals …

Ein Blick zurück in die 1980er Jahre könnte hilfreich sein. Die Friedensbewegung war damals keine straff organisierte „Kaderpartei“, sondern eine breite Koalition unzähliger selbstorganisierter Gruppen, die A In einem Punkt waren sie sich einig: „Keine Stationierung neuer Atomraketen in Westeuropa!“ Ihr langfristiges Ziel: ein atomwaffenfreies Europa und die Überwindung der Machtblöcke.

Es gab Berufsgruppen wie „Ärzte, Anwälte, Lehrer, Sportler, ja sogar Soldaten für den Frieden“. Es gab Friedensgruppen in der Kirche, in den Gewerkschaften, im kulturellen und (heute fast undenkbar) im journalistischen Milieu. Es gab Gruppen alter Leute wie die „Kriegsgeneration gegen Kriegsrüstung“ und es gab Gruppen sogenannter „unpolitischer“ Menschen, die einfach zutiefst schockiert waren, als sie erkannten, dass sie jahrelang in unmittelbarer Nähe von Massenvernichtungswaffen gelebt hatten, ohne es zu merken.

Und es gab ein „Zauberwort“: Ecopax! Das Bewusstsein, dass der Kampf gegen die kriegerische und der Kampf gegen die „friedliche“ Zerstörung unseres Planeten objektiv untrennbar miteinander verbunden sind, war allgemein bekannt.

… und heute

Eine neue Friedensbewegung, wie ich sie mir wünsche, eine „Breite Koalition der Vernunft“, würde hier wieder anknüpfen. Sie würde versuchen, alle bestehenden Antikriegsaktivitäten locker zu bündeln. Sie würde – heute extrem wichtig! – den Dialog mit den Klimaaktivisten der jüngeren Generation auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt suchen.

Sie würde danach streben, sich zu internationalisieren. Nach dem Grundsatz: „Alle Menschen, die ein sofortiges Ende des Krieges in der Ukraine und eine nachhaltige Deeskalation zwischen dem Westen und Russland wollen, sollten sich zusammenschließen – ungeachtet aller sonstigen Differenzen.“ Und zwar nicht nur in den anderen Ländern der Europäischen Union, sondern bis in die Ukraine, nein: bis nach Russland! Sie würde die Bürger aller Länder ermutigen, die neuen und alten Feindbilder abzulehnen und stattdessen direkte Kontakte von Mensch zu Mensch auf allen Ebenen wieder aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Und sie würde, solange der Krieg dauert, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure – alle Menschen auf beiden Seiten der Front, die sich nicht am Töten und Zerstören beteiligen wollen – mit offenen Armen empfangen.

Schließlich würde sie über den blutigen Krieg in der Ukraine hinausdenken und sich auf politischer Ebene für eine neue Entspannungspolitik einsetzen, für einen „Helsinki-Prozess 2.0“, d.h. für eine vollständig Neuausrichtung der gesamten europäischen Sicherheitsstruktur unter gleichberechtigter Einbeziehung Russlands Für eine Friedensordnung, die den Kernsatz der „Charta von Paris“ vom November 1990: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden“, noch einmal in den Mittelpunkt stellt.

Und es würde mit Organisationen wie der mit dem Friedensnobelpreis 2017 ausgezeichneten internationalen Kampagne zusammenarbeiten ICH KANN oder die Ärzte gegen Atomkrieg ICAN hat sich 2012 mit der IPPNW (Internationale Vereinigung für Atomwaffen) zusammengeschlossen, um sich für ein weltweites Verbot von Atomwaffen einzusetzen. ICAN hat es nicht nur geschafft, dass mittlerweile 93 Staaten den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet und 69 Staaten ihn ratifiziert haben – es arbeiten auch relativ viele gut informierte junge Menschen mit. Im besten Fall könnte ICAN der ideale Katalysator für ein zeitgemäßes „Ecopac“ sein, also für eine längst überfällige Annäherung zwischen Klimaschutz- und Friedensbewegung.

Dass es sich dabei nicht um Träume ‚weltfremder Idealisten‘, ‚naiver Weltverbesserer‘ oder ‚nützlicher Idioten‘ handeln muss, sondern dass dieser Druck von unten sogar bis in die höchsten Ebenen der Politik vordringen und dort Wirkung entfalten kann, bestätigte 2017 niemand Geringeres als Michail Gorbatschow: „Ich erinnere mich noch gut an die laute Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er Jahren. Diese Stimme wurde gehört!“

In diesem Sinne also.

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Titelbild: BSW


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